Einleitung
„Neue soziale Fotografie“ - unter diesem Begriff hat der Autor einen medientheoretischen und medienpraktischen Ansatz zusammengefasst, der darauf abzielt, soziale Strukturen moderner Gesellschaften visuell zu erfassen und zu thematisieren. Unter Abhebung von der „klassischen“ sozialen Fotografie des 20. Jahrhunderts wird dabei der Wahrnehmungs- und Abbildungsgeschichte des Sozialen und den modernisierten Sozialstrukturen Rechnung getragen.
Übertragen auf das vorzustellende Projekt bedeutet „Neue soziale Fotografie“:
- die Einbindung des Mediums Fotografie in ein soziales Projekt („Soziale Stadt“), das den sinnstiftenden Interpretationshintergrund der Bilder abgibt - die Kontrollmöglichkeit der Befragten und Portraitierten im Sinne einer partizipativen Sozialforschung über ihr „Abbild“ und ihre geäußerte Meinung - die Herstellung von Öffentlichkeit zu einem sozialen Bereich, der von den Massenmedien kaum aufgegriffen wird Das Fotoprojekt „Menschen und Meinungen aus dem Piusviertel“ versteht sich dabei in der Tradition der sogenannten Chicagoer Schule der Stadtsoziologie, die bereits in den 20er Jahren sozialwissenschaftliche und journalistische Methoden zusammenführte. Dabei geht es um die gegenseitige Ergänzung von „objektiven“ Sozialdaten und „subjektiven“ Lebenslagen.
Ausgangssituation 1999 beschloss der Stadtrat von Ingolstadt, das im Nordwesten gelegene sogenannte Piusviertel als Fördergebiet im Rahmen des von der Bundesregierung aufgelegten Programmes „Soziale Stadt“ anzumelden. Dieses Programm dient der nachhaltigen Sanierung und Aufwertung von Stadtteilen, in denen sich problematische Lebenslagen der Bewohner häufen. Das Piusviertel in Ingolstadt zeichnet sich hinsichtlich der Bewohnerstruktur durch einen im Vergleich mit anderen Stadtbezirken hohen Anteil an Ausländern und Aussiedlern aus - mit rund 56 Prozent ist dieser Anteil fast doppelt so hoch wie der gesamtstädtische Durchschnitt von rund 27 Prozent. Im kleinräumigen Bereich - auf Blockebene - klettert dieser Anteil teilweise auf über 80 Prozent. Insgesamt teilen sich die rund 13.000 Bewohner des Sanierungsgebietes in drei nahezu gleich große Gruppen Deutscher Bewohner, Ausländer und Aussiedler auf. Der Anteil der einheimischen Deutschen hat dabei seit Jahren kontinuierlich abgenommen, seit etwa drei Jahren ist auch eine Abnahme der ausländischen Bewohner festzustellen. Stark gewachsen ist hingegen die Zahl der Aussiedler. Sehr hoch im Vergleich zu anderen Stadtteilen ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen. Unterrepräsentiert ist die Gruppe der Erwerbstätigen zwischen 25 und 60 Jahren. Zielsetzung des Foto-Projektes Das Aktionsprogramm „Soziale Stadt“ zielt nicht auf kurzfristig zu erstellende bauliche Maßnahmen, sondern auf langfristig und nachhaltig wirkende Veränderung im gesellschaftlichen Bereich. Das Programm zielt auf Hilfe zur Selbsthilfe und auf Stärkung der Eigeninitiative. Der Beteiligung der Anwohner kommt so eine zentrale Bedeutung zu.
Das Fotoprojekt „Menschen und Meinungen aus dem Piusviertel“ zielt auf diese Beteiligung der Anwohner. Inhaltlich geht es dabei um die Erstellung einer Reihe von fotografischen Portraits der Viertelbewohner (Familien, Gruppen von Jugendlichen, Einzelhändler, Einzelpersonen), ergänzt durch Kurzinterviews, die ihre Sicht des Viertels mit seinen Vorteilen und Nachteilen wiedergeben. Fotos und Interviews werden in einer öffentlichen Ausstellung im neu eingerichteten Stadtteilbüro „La Fattoria“ gezeigt. Das Fotoprojekt entstand in Kooperation und schließlich im Auftrag des Stadtplanungsamtes Ingolstadt und wurde von dem Münchner Journalisten und Medienwissenschaftler Rudolf Stumberger konzipiert und durchgeführt.
Die Zielsetzung des Fotoprojektes richtete sich auf folgende Punkte: 1. Den Bewohnern des Stadtviertels ein mediales Forum zur Darstellung ihrer Meinung, ihrer Wünsche und Probleme - bezogen auf das Viertel - zu geben. 2. Die Bewohner des Stadtviertels über visuelle Darstellung mit dem Programm der "Sozialen Stadt" bekannt zu machen bzw. heranzuführen. Die
visuelle Darstellung - die Fotoserie - eignet sich gerade angesichts eines hohen Anteils an Aussiedlern und Ausländern im Viertel mit ihren Sprachbarrieren. Die Motivation
zur Teilnahme an Prozessen der Quartiersentwick- 3. Bedeutsam ist auch der Prozess der Erstellung der Fotoserie selbst. Durch vielfältige Kontakte des Autors mit den Einwohnern kann das Programm der "Sozialen Stadt" über Kommunikatoren und informelle Netzwerke im Viertel zum Gesprächsthema gemacht werden (Plausch beim Kirchgang, beim Lebensmittelhändler, in der Kneipe). So können auch hier Sprach- und andere kulturelle Barrieren gegenüber Medienrezeption (das Piusviertel weist z.B. einen sehr geringen Verbreitungsgrad der Tageszeitung auf) überwunden werden und entsprechend die Motivation zur Prozessteilnahme gestärkt werden. 4. Die Fotoausstellung dient auch der Präsentation des Programmes "Soziale Stadt" gegenüber der Öffentlichkeit (Medien, Stadtrat, Verbände, Landesbehörden). Die Ausstellungseröffnung kann genutzt werden, um das Programm öffentlichkeitswirksam vorzustellen. Die Fotoserie selbst ist insofern medienwirksam, da eine visuelle Präsentation als "Aufhänger" gerade in elektronischen Medien (TV) gegenüber einer rein textlichen Präsentation von Vorteil ist.
Methode und Durchführung Fotoserie und Interviews wurden im Zeitraum Mai/Juni 2000 erstellt. Insgesamt wurden 27 (Gruppen)Portraits angefertigt. In ihrer Zusammensetzung spiegeln sie in etwa die altersmäßige Struktur und die drei Hauptgruppen im Viertel (Einheimische Deutsche, Ausländer, Aussiedler) wieder. Um mit den Anwohnern des Viertels in Kontakt zu treten, wurden zunächst die formellen sozialen Institutionen genutzt. Über Kirchen, Jugendtreffs, Wohnungsbaugesellschaften, den Kontaktpolizeibeamten etc. wurden die ersten Kontakte geknüpft. Die Vertreter der jeweiligen Institutionen dienten dabei als Mittler zwischen dem Autor und den Befragten. Diese Vermittlungsinstanz erwies als äußerst wichtig für das Projekt, um eine erste Vertrauensatmosphäre aufzubauen. Eine Kontaktaufnahme ohne diese Vermittlung z.B. über das Telefon oder auf der Straße erwies sich als wenig sinnvoll, die angesprochenen Anwohner reagierten fast ausschließlich ablehnend. In einem zweiten Schritt wurde über eine Art „Schneeballsystem“ die Freunde und Bekannten der bereits Befragten interviewt. Die Interviewsituation wurde weitgehend offen gestaltet. In einem ersten Schritt erläuterte der Autor das Fotoprojekt und in groben Zügen das Programm
der „Sozialen Stadt“. Danach wurden die portraitierten Anwohner nach ihrer
Meist im Anschluss an das Interview wurde von den Befragten dann ein fotografisches Portrait erstellt. Diese zeitliche Setzung erwies sich als sinnvoll, da in dem vorangegangenen Gespräch (Dauer meist eine dreiviertel Stunde) die Gelegenheit zum Aufbau einer Vertrauensbasis gegeben war, dass sich dann auch in der fotografischen Situation niederschlug. Fotografiert wurde mit einem 35-mm-Weitwinkelobjektiv. Diese Brennweite ermöglicht die Darstellung sowohl der Portraitierten als auch der Umgebung. Damit wird eine Fokussierung auf das rein Persönliche vermieden und die portraitierten Personen in Bezug zu ihrer sozialen Umwelt und den baulichen Gegebenheiten dargestellt. Vor der Eröffnung der Ausstellung erhielten die Befragten zeitgleich mit einer Einladung zur Ausstellungseröffnung einen Abzug ihres Portraits und eine Kopie des dazugehörigen Textes, der aus den Interviews erstellt wurde. Damit wurde den Befragten im Sinne einer „Aktionsforschung“ die Möglichkeit zur Kontrolle über ihr eigenes Bild und ihre geäußerte Meinung gegeben. Es bestand die Möglichkeit, den Text zu verändern oder die Einwilligung zur Veröffentlichung auch generell zurückzuziehen. Damit sollte auch dokumentiert werden, dass die Befragten nicht „Objekte“ eines von oben angeordneten Prozesses, sondern gleichberechtigte, teilhabende Subjekte sind.
Ergebnisse Der über mehrere Wochen intensive Kontakt mit den Einwohnern des Piusviertels und die persönliche Präsenz des Autors führte in den informellen Netzwerken des Viertels (Familienbande, Freundeskreis, etc.) zu einer Thematisierung des Fotoprojektes und des Programmes der „Sozialen Stadt“. Letzteres wurde vor allem konkret dadurch vermittelt, dass auf die Eröffnung des Stadtteilbüros hingewiesen wurde. Was sich ansonsten auf abstrakter Ebene schwer vermitteln lässt, konnte so über das Fotoprojekt und den zu begutachtenden Umbau der ehemaligen Pizzeria in ein Bürgerbüro sinnlich vermittelt werden. Hinsichtlich der Interviewsituation zeigte sich, dass sobald ein Vertrauensverhältnis über einen Mittler und den persönlichen Kontakt gegeben war, die Befragten bereitwillig Auskunft zu den Fragen gaben. Viele fühlten sich auch durch das Fotoportrait in ihrer Meinung und als Person durch eine „offizielle Instanz“ ernst und wichtig genommen , was sich nicht zuletzt dadurch ausdrückte, dass manche der weiblichen Befragten vor dem Fototermin zum Friseur gingen. Manche zeigten sich auch überrascht, dass jemand sich für ihre Meinung und Person interessierte. Innerhalb der Interviewsituation zeigte sich das Fotografieren als wichtiger kommunikativer Akt, in dessen Rahmen der Meinung der Befragten zusätzliches Gewicht verliehen wurde.
Inhaltlich schien in den Interviews die wichtige und bisher kaum öffentlich gewürdigte soziale Integrationsfunktion des Piusviertels über die Jahrzehnte hinweg auf. Der Großteil der Befragten, der in Grenzen durchaus als repräsentativ für die Bewohner des Viertels stehen kann, kam im Zuge verschiedenster Flüchtlings- und Migrationsbewegungen nach Ingolstadt und in das Piusviertel. Angefangen von denjenigen, die in den 50er Jahren aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der DDR kamen, über die deutschstämmigen Zuzügler aus dem Banat und Siebenbürgen und die Gastarbeiter vor allem aus der Türkei in den 60er und 70er Jahren, bis hin zu den heutigen Aussiedlern aus den GUS-Staaten. Die meisten der Befragten zeigten sich mit ihrer Wohnung und der Wohnumgebung zufrieden, sie wollen auch im Viertel wohnen bleiben. Gründe hierfür sind z.B. große Eigeninvestitionen, die in den Wohnungen getätigt wurden, die Nähe zu Freunden und Verwandten, die Nähe zum Arbeitgeber AUDI, das Verwurzeltsein im Viertel. Als problematisch wurde teilweise das Zusammenleben von älteren Einwohnern und Kindern und Jugendlichen genannt. Während sich die Senioren vom Lärm spielender Kinder gestört fühlen, beklagen die Eltern fehlende Spielmöglichkei-
ten und Bolzplätze. Beklagt wurde auch das Fehlen eines Freizeitangebots für Jugendliche.
Dies gilt insbesondere für Jugendliche aus der Gruppe der Aussiedler. Vor allem ältere Bewohner fühlen sich durch die Präsenz dieser Heranwachsenden auf der Straße und deren Kommunikation in russischer Sprache gestört. Jugendliche aus dieser Gruppe wiederum fühlen sich isoliert und suchen Halt in der gleichen Sprachgruppe.
Das Projekt fand seinen Abschluss mit der Eröffnung des Stadtteiltreffs und der Ausstellungseröffnung am 28. Juli 2000. Von den Portraitierten waren etliche der Einladung gefolgt und suchten interessiert unter den Ausstellungsfotos nach „ihren“ Fotografien. Offizielles Gewicht wurde der Ausstellungseröffnung durch die Anwesenheit des Oberbürgermeisters, des Stadtbaurates, mehrerer Stadträte, Vertreter des Obersten Baubehörde und der Regierung von Oberbayern gegeben. In der Folgezeit zeigte sich, dass einige der Portraitierten aktiv an dem Betrieb des Stadtteiltreffs teilnahmen, z.B. durch Mitarbeit im gastronomischen Bereich, als Ansprechpartner für die Besucher der Ausstellung, etc. Das anvisierte Ziel des Fotoprojektes , Bürger des Viertels mit dem Programm der „Sozialen Stadt“ bekanntzumachen, Schwellenängste abzubauen und zu aktiver Mitarbeit zu motivieren, kann so als erreicht angesehen werden.
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