Eine Stadt macht dicht

WienerZeitung 12.01.2002

 

 

 Eine Stadt macht dicht

  

 In der Boomtown München im Süden Deutschlands beeinträchtigt der Engpass auf dem Wohnungsmarkt die wirtschaftliche Entwicklung. Gesucht werden Arbeitskräfte, doch Normalverdiener scheitern am hohen Miet-Niveau. Jetzt schließt die Stadt sogar die Tore für Wohnungslose und warnt vor einem Zuzug

  

Von Rudolf Stumberger

 Für Matthias Ketteler von der Rea-Solartechnik ist das Fazit klar: „Du kriegst hier keinen Handwerker mehr, nur manchmal ruft einer aus den neuen Bundesländern an. Aber denen sind die Mieten zu teuer.“ Der 43-jährige Ingenieur arbeitet in einem kleinen Betrieb der Solaranlagen installiert und der Firma geht es wie vielen Unternehmen in München: Arbeitskräfte sind knapp. Denn während zum Beispiel die Baubranche bundesweit ein Klagelied anstimmt, herrscht in der weißblauen Landeshauptstadt ein gewaltiger Boom. Großbaustellen wie an der Neuen Messe auf dem ehemaligen Flughafengelände Riem, auf den ehemaligen Kasernengeländen im Norden der Stadt oder auch der baldige Umbau des Siemens-Viertels tragen dazu bei, dass die Wirtschaft in München brummt. Und dies immer noch, auch wenn etwa bei dem Chiphersteller Infineon Arbeitsplätze abgebaut werden.

 

Doch dem Wirtschaftsstandort droht abseits der Konjunkturentwicklung Gefahr von ganz anderer Seite: Fast die Hälfte der Unternehmen in München kann offene Stellen für qualifizierte Mitarbeiter nicht besetzen, besonders betroffen sind kleine und mittelständische Unternehmen mit zehn bis 49 Mitabeitern. Mit bei zu diesem Arbeitskräftemangel trägt nach einer repräsentativen Umfrage der Münchner Industrie- und Handelskammer die aktuelle Wohnungsmarktsituation, hier zeigen sich mittlerweile nachweisbare Auswirkungen auf die Wirtschaft. Denn immerhin jedes vierte Unternehmen in der Region sieht sich durch die Mietmisere bei der Suche nach Fachkräften erheblich beeinträchtigt.

 

Samstag morgen, eine alltägliche Szene in München: Vor einem Anwesen in der Innenstadt wartet eine Gruppe von rund 40 Personen auf Einlass. Punkt zwölf Uhr öffnet der Immobilienmakler die Türe und  es beginnt das Schaulaufen um den eigenen Wohnraum. Es sind meist Pärchen, die hier ihr Wohnungsglück versuchen, meist Mitte Dreißig und meist wohl auch mit einem entsprechenden Salär versehen. Denn die 80 Quadratmeter für rund 1200 Euro Warmmiete will erst mal Monat für Monat bezahlt sein. Die Interessenten füllen gottergeben den Fragebogen des Vermieters aus, dem gegenüber der Gang zum Beichtstuhl oder zum Finanzamt die kleinere Ãœbung ist. Der Zustand der Wohnung wird nur mehr nebensächlich zur Kenntnis genommen, Mäkeln gegenüber dem Makler lässt sofort die eigenen Chancen in den Keller sinken. Schließlich macht einer der Interessenten das Rennen, der Rest stürzt sich erneut in den Nahkampf um eine Bleibe, man wird sich wiedersehen. Einige versuchen es per Zeitungsinserat auf die emotionale Tour: „Ehepaar m. süßer kl. Tochter sucht Wunderwhg. f. 1200.- in Mü. (DM)“  Eine derart preisgünstige Wohnung zu finden grenzt mittlerweile durchaus an ein Wunder.

 

München leidet, und das hat es mit anderen prosperierenden Zentren wie etwa Zürich gemein, paradoxerweise am wirtschaftlichen Erfolg. Während in den neuen Bundesländern wegen der Abwanderung ganze Plattenbausiedlungen umgelegt werden und die Innenstädte veröden, ballt und drängt es sich hier im Süden. Der hohe Freizeitwert der Region mit den nahen Bergen und den oberbayerischen Seen, gepaart mit dem sympathischen Image der „nördlichsten Stadt Italiens“, übt einen Sog auf moderne Unternehmen, allen voran auf die IT-Branche, aus. München ist Boomtown und eine Medien- und High-Tech-Stadt: Die IHK zählte für 1999 über 260000 Beschäftigte in rund 18 000 Unternehmen dieser Branchen, die einen Gesamtumsatz von über 61 Milliarden Euro erwirtschafteten. 24 Prozent aller bundesdeutschen Internet-Start-Ups werden im Raum München gegründet und hier haben die meisten Multimedia-Firmen ihren Sitz. Fast jede Woche wird der Grundstein für ein neues Bürogebäude gelegt.

 Dies schafft nicht nur hochqualifizierte Arbeitsplätze, sondern schafft auch wachsenden Bedarf an Mitarbeitern im Dienstleistungssektor und im Handwerk – wollen doch all die Redakteure, IT-Consultants und Web-Designer auch speisen, sich vergnügen, Socken einkaufen und am nächsten Morgen in der Firma eine geputzte Toilette vorfinden. So ist die Arbeitslosigkeit mit vier Prozent im Vergleich zum Bundesdurchschnitt – rund neun Prozent – eher gering.

 

Doch gerade für die „Normalverdiener“ – die Heizungstechniker, Putzfrauen, Verkäuferinnen und Sekretärinnen, aber auch für die Beamte des Polizeidienstes etwa – ist München von der Mietbelastung her zu einem finanziellen Alptraum geworden. Denn die durchschnittliche Nettokaltmiete (Drei-Zimmer-Wohnung mit 70 Quadratmeter, mittlerer Wohnwert, nach 1949 erbaut) liegt nach Angaben des Rings Deutscher Makler mittlerweile bei 10 Euro – die südliche Landeshauptstadt nimmt somit den Spitzenplatz in Deutschland ein. Es folgen Düsseldorf, Köln und Bonn mit jeweils 7 Euro und selbst in der Bundeshauptstadt Berlin ist eine vergleichbare Wohnung schon für Hälfte zu haben (West-Berlin 5 Euro, Ost-Berlin 3,5 Euro). Die Erstbezugsmieten kletterten gar auf 13 Euro pro Quadratmeter.

 

Wohnen in München wird immer mehr zum Luxus („man gönnt sich ja sonst nichts“) und in der Stadt vollzieht sich ein Einwohnerwandel hin zu den Besserverdienenden und Betuchten. Denn diese haben weniger Probleme sich zum Beispiel eine 112-Quadratmeter-Wohnung zum Kaufpreis von 700.000 Euro im Herzen des ehemaligen Künstlerviertels Schwabing zu leisten. „Wer Alt-Schwabing sein Zuhause nennen darf, zählt zu den Verwöhnten Münchens“, folgert richtig der Bauträger in seiner Verkaufsannonce. Auch Reihenhäuser für eine Millionen Euro oder eine Villa für 4,5 Millionen Euro (die Spitzenreiter am Münchner Immobilienmarkt im Jahr 2000) finden ihre Käufer.

 

Wer hier nicht mithalten kann tut sich schwer in der Hauptstadt der Mieten und Immobilienpreise. Verblüffender Weise gilt immerhin jeder achte Einwohner der Boomtown als „arm“, rund 160 000 Menschen der 1,3-Millionen-Metropole lebt somit am Rande des Existenzminimums.  Für den neuen Armutsbericht 2002 rechnet man mit nur geringfügigen Veränderungen. Viele dieser Menschen haben längst die Altbauwohnungen in den begehrten Vierteln aus der Gründerzeit geräumt und wohnen in den gesichtslosen Neubausiedlungen aus den 60er und 70er Jahren am Stadtrand. 

Beispiel Hasenbergl. Die Sozialwohnungssiedlung (erbaut um 1964) grenzt im Norden der Stadt an Wälder und Äcker und sie ist auch der bevorzugte Ort, wenn Journalisten sich auf die Suche nach dem „Sozialen“ begeben. Hier wohnen, zwar nicht nur, aber doch deutlich über dem statistischen Schnitt, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose. Der Anteil von Ausländern und Aussiedlern ist hoch und dies gilt auch für den Anteil von Jugendlichen und Kindern. Das Hasenbergl ist ein sogenanntes „Problemviertel“, das nun im Rahmen des Bundesprogrammes „Soziale Stadt“ saniert werden soll. Wie in den anderen Neubauvierteln München-Neuperlach und München-Neuaubing dominieren hier Sozialwohnungen in monotoner Blockarchitektur, es fehlt diesen Bausünden größtenteils immer noch die Infrastruktur wie Freibäder, Kneipen oder Kinos. Als reine Schlafstädte für Arbeiter und Angestellte konzipiert, fehlt es ihnen auch völlig an jenem Ambiente, das die gutverdienenden jungen Angestellten in den bunten und lebendigen Straßen der Innenstadt suchen.

In diesen Sozial-Vierteln wohnt auch die Klientel für die „Münchner Tafel“, einer ehrenamtlichen Organisation, die - wie in vielen anderen Städten - kostenlose Lebensmittel an Bedürftige ausgibt. Donnerstag Nachmittag, 14 Uhr im Hof der evangelischen Dankes-Kirche im Münchner Norden: Gut zwei Dutzend Menschen stehen vor dem Tor, viele ältere Frauen mit Einkaufstaschen auf Rädern, Mütter mit Kinderwägen, Männer mit Plastiktüten. Später werden sie mit frischem Obst und Gemüse, Brot und Milch, Wurst und Käse wieder nach Hause gehen. Rund 8000 Menschen betreut die „Tafel“, verteilt ihre Lebensmittel in Obdachlosenwohnheimen und auf der Straße: Eine Art Armenspeisung im 21. Jahrhundert.

 

Dramatisch hat sich die Situation für diese geringer Verdienenden auf dem Wohnungsmarkt zugespitzt und manche können hier nicht mehr mithalten: Die Zahl der Menschen ohne Obdach nimmt immer mehr zu. Pro Monat werden seit Januar diesen Jahres 384 Menschen als wohnungslos gemeldet, vor einem Jahr waren es noch 100 weniger gewesen. Die städtischen Unterkünfte und Wohnheime sind voll von Obdachlosen, die Vermittlung von obdachlosen Wohnungssuchenden über den freien  Wohnungsmarkt sank im Laufe des vergangenen Jahres fast um die Hälfte (44 Prozent). Vor der Tür stand der Unterbringungsnotstand und in einem öffentlichen Appell bat und bittet die bayerische Landeshauptstadt die Wohnungsgenossenschaften und die Wohnbaugesellschaften, dem Sozialreferat Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Die Stadt errichtete Containerlager, um die schlimmsten Engpässe zu überbrücken, doch nun droht der Offenbarungseid: „Wir sind gezwungen, die Stadttore dicht zu machen“, so die SPD-Stadträtin Gertraud Walter. Aufgrund des Wohnungsnotstandes will das Wohnungsamt die Notunterkünfte nur noch an jene Menschen vermitteln, die bereits vor dem 9. November in München gemeldet waren – eine juristisch umstrittene Maßnahme. Der Münchner Sozialreferent Friedrich Graffe warnt inzwischen die Zuzügler: „Menschen sollten sich nicht von der Boomtown München blenden lassen, sondern erst umziehen, wenn die Wohnsituation geklärt ist“. Denn „so schnell können wir gar nicht bauen, wie die Menschen wohnungslos werden“.

 

Damit die „Normalverdiener“ in München nicht zu einer Randerscheinung werden und sich der Mangel an Arbeitskräften nicht noch mehr verschärft, versucht die Stadt gegenzusteuern: Im „Münchner Modell“ werden verbilligte Grundstücke der Stadt für Miet- und Eigentumswohnungsbau angeboten, neue Fördermodelle auch im Genossenschaftsbereich sollen Wohnen und Wohneigentum auch für weniger Betuchte erschwinglich machen. Ein „Bündnis für Wohnungsbau“ soll sämtliche Potenziale in der Stadt erschließen und so die sozialen Folgen der Wohnungsnot abmindern helfen. Und ein von Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) eingesetzter „Stab für außergewöhnliche Ereignisse“ ist permanent auf der Suche nach neuen Unterkünften für Bedürftige. Doch bleiben die „Stresssymptome des Erfolgs“ (Ude)  trotz dieser sozialen Abfederungsmaßnahmen  bestehen, manche Stadträte spekulieren schon über „Turnhallen für Billig-Arbeitskräfte“.

 

Die Münchner Solaranlagenbauer Rea haben übrigens mittlerweile einen neuen Installateur gefunden. Einen jungen Mann aus Chemnitz. Er pendelt jetzt jeden Tag 50 Kilometer aus dem Umland in die Stadt herein. Eine notdürftige Bleibe gefunden hat er bei einem Landwirt – der bietet dort Zimmer an für „Ferien auf dem Bauernhof“.

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